Paradoxien der Mobilität oder  wie Beschleunigung im Arbeitsleben zum Stillstand der sinnlichen Erfahrung führt

Stefan, Paulus 2017.  Paradoxien der Mobilität oder  wie Beschleunigung im Arbeitsleben zum Stillstand der sinnlichen Erfahrung führt. Saiten; 270 https://doi.org/10.5169/seals-884159 PDF

Paradoxerweise kann unsere derzeitige beschleunigte Lebens- und Arbeitsweise, die rasende Geschwindigkeit, mit der sich die kapitalistische Wirtschaftsweise ausdehnt und dadurch nach Arbeitskräften in jedem Winkel der Erde verlangt, auf die neolithische Revolution zurückgeführt werden: also auf die Jungsteinzeit, in der die Menschen ihre nomadische Lebensweise gegen Sesshaftigkeit, Ackerbau, Viehzucht und Vorratshaltung eintauschen – in der nicht mehr das Herumziehen mit Tieren oder der Wachstumszyklus von Pflanzen, sondern das Produzieren und Tauschbarmachen von Gütern zur Lebensgrundlage wird.

Mit der Sesshaftigkeit entsteht auch Eigentum an Grund und Boden und damit der ungleiche Tausch von Arbeitskraft gegen Naturressourcen, Lebensmittel, Geld. Als quantitativer Sprung dieser Entwicklung kann sicher die industrielle Revolution genannt werden. 1848 schreibt Karl Marx: «Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnten Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.» Seitdem wird unaufhörlich abgeholzt, im Boden nach Eisenerz und Kohle gewühlt, um Stahl zu kochen, Maschinen zu bauen und die Ausbeutung von Naturressourcen schneller und effizienter zu organisieren. Ortsunabhängige Zeitzonen jenseits von Lebensrhythmen, Sonnen auf- und -untergang werden notwendig, damit die Warenproduktion nicht ins Stocken gerät und damit Lieferungen pünktlich ankommen. Bahngleise, Strassen, Tunnels, Kanäle, Landebahnen werden gebaut, damit Waren und Arbeitskräfte in einer höheren Geschwindigkeit von A nach B transportiert werden können.

RUND UM DIE UHR, RUND UM DEN GLOBUS

An diesem Bedürfnis, für stetige Profitmacherei über die ganze Erdkugel zu hetzen und die billigsten Standorte und Arbeitskräfte zu finden, hat sich auch im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts nichts geändert. Automatisierung der Produktion, Vorgesetzte, die durch effizientere Roboter ersetzt werden, Zeitarbeit, Termingeschäfte oder ein mit Computern betriebener Handel mit Wertpapieren gehen damit einher. In dieser neuen Phase ist die Rolle der Einzelnen nicht mehr auf das Funktionieren in der Produktion beschränkt, sondern die abhängig Beschäftigten müssen ihr materielles Überleben durch die Gegenleistung individueller Flexibilität in Bezug auf Arbeitsplatz und -zeit sichern, um zu jeder Zeit an x-beliebigen Orten in der «Rund-um-die- Uhr-Ökonomie» eingesetzt werden zu können. Als Folge treten in den Industrieländern Erscheinungen auf wie psychische Probleme, Stress- und Burnout-Syndrome, das Gefühl des Gehetztseins bis hin zu «Karōshi», den Tod durch Überarbeitung. Statt Maschinen für Menschen arbeiten zu lassen, entsteht eine chronokratische Herrschaft, eine Diktatur der Zeit, in der Menschen den systemischen Prozessen fremd gegenüberstehen. Die Mobilisierung des Menschen zur Profitmaximierung erschafft dazugehörige ordnungssystematische Raumgefüge mit Mauern, Zäunen, Staatsgrenzen und Grenzpolizisten, welche das Eindringen von Waren filtern und die Bewegungsfreiheit von Menschen zu kontrollieren versuchen. Trotz der scheinbar weltweiten Möglichkeiten des Mobilseins lebt jedes Individuum in einem Rahmen, dessen Radius äusserst klein ist. Es pendelt zwischen Wohnung und Arbeitsplatz, geht Einkaufen, vielleicht noch ins Fitnessstudio oder Kino. Und trotz der Nebenprodukte der internationalen Warenproduktion – Tourismus und Reisen – ist der moderne Mensch so arm an sinnlicher Erfahrung wie nie zuvor. Komfortabel geschützt sitzen Reisende im Flugzeug oder Auto, sehen Landschaften vorbeirasen und werden trotzdem bzw. dadurch ihrer anderen Sinne beraubt. Reisende ohne Reise, den «rasenden Stillstand» hat Paul Virilio das genannt: Um des Zieles willen wird die Strecke der Reise beseitigt. Nomaden hingegen bewegen sich auf Linien oder gehen von Punkt zu Punkt. Aber im Gegensatz zu Sesshaften sind diese Punkte den Wegen untergeordnet: «Die Wasserstellen sind nur dazu da, um wieder verlassen zu werden», schreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari in Tausend Plateaus.

Aber nicht nur ökonomische Beschleunigungsmechanismen, Verkehrswege, die Regelungen, wer innen und aussen ist, oder die verkümmerte Wahrnehmung der Umwelt spielen eine wichtige Rolle in diesem absurden Theater, sondern auch die Platzanweiser, in Form von territorialen und nationalistischen Denkweisen und Ideologien. Sie dienen zur Festlegung von identitären Verortungen, sie produzieren Gefühle von Heimat und Dazugehörigkeit –wie sonst lassen sich die Ressentiments gegen Fahrende, Geflüchtete, Arbeitsmigrantinnen und -migranten erklären?

DIE HOBOS DES 21. JAHRHUNDERTS

Neben der strukturell geforderten bzw. erzwungenen Mobilitätsbereitschaft zeichnet sich in der Mobilisierung der Arbeitskraft aber auch ein Bedürfnis der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum Bereisen und Entdecken fremder Welten ab. Das Leitbild «Always on the go» der US-amerikanischen Arbeiterschaft im frühen 20. Jahrhundert – verkörpert in der Figur des Hobo (prekäre US-amerikanische Wanderarbeiter, die im frühen 20. Jahrhundert auf der Suche nach Lohnarbeit auf Güterzügen in den USA umherstreiften und von Künstlern wie Woody Guthrie oder Jack Kerouac in ihren Liedern oder Büchern als Freiheitsliebende romantisiert werden) – wird aktuell durch die Figur des Digitalen Nomaden fortgeschrieben. Mobilität wird in diesem Zusammenhang als Chance begriffen, sich betrieblichen Hierarchien zu entziehen und Momente der Selbstbestimmung zu finden: Nicht-Sesshaftsein aus weltanschaulichen Gründen.

Der Unterschied zwischen Hobos und Digitalen Nomaden liegt wohl darin, dass Hobos sich als Wobblies, als Industrial Workers of the World organisierten, wild streikten, sich nicht ihre Identität im Sortiment kapitalistischer Subjektivierungsangeboten aussuchten und sich auch nicht als Entrepreneurs in internationale Wertschöpfungsketten eingliederten. Dennoch sind diese Figuren und alle anderen selbstgewählten Heimatlosen, Vaganten und Vagabundinnen, Tramps und Traveler den Wohnhaften höchst suspekt, da sie schwer zu kontrollieren sind und gegenkulturelle Lebensweisen entwickeln.

Den Aspekt der Revolte hat sich auch die Situationistische Internationale mit ihrem Konzept der Psychogeographie zu eigen gemacht, um sinnliche Erfahrungen und Erkenntnisweisen zurückzugewinnen. Das Adjektiv «psychogeographisch» beschreibt die Resultate des geographischen Einflusses auf die menschlichen Gefühle. Die Psychogeographie ist die Methode der Erforschung der Wirkungen des geographischen Milieus, das – ob bewusst oder nicht – direkt auf das emotionale Verhalten einwirkt. Psychogeographen konzentrieren sich auf die Erforschung der Einflüsse von ordnungssystematischen Szenerien: «Der plötzliche Stimmungswechsel auf einer Strasse in einer Entfernung von nur wenigen Metern; die offensichtliche Aufteilung einer Stadt in einzelne, scharf unterscheidbare psychische Klimazonen […]; der anziehende oder abstossende Charakter bestimmter Orte – all dies wird scheinbar nicht beachtet, jedenfalls wird es nie als abhängig von den Ursachen betrachtet, die man durch eine tiefgreifende Analyse aufdecken und sich zunutze machen kann», beschreibt Guy Debord eine psychogeographische Situation.

Situationistische Analysen zeigen, wie Personen ihre Umwelt nicht mehr wahrnehmen, weil das gesellschaftliche Verhältnis zwischen Personen im kapitalistischen Zeitalter nur noch auf die zugewiesenen Rollen als Produzenten oder Konsumenten reduziert ist. Sie zeigen, dass die Art des Wohnens nicht für Menschen gemacht ist, sondern ohne und gegen die Bewohnerinnen und Bewohner. Sie zeigen, wie die urbane Stadtentwicklung die Organisation der Isolation aller ist.

DIE VORHERSEHBAREN PFADE VERLASSEN

Die Technik der Psychogeographie ist das Umherschweifen bzw. ein Dérive. Damit verbunden ist das Verlaufen oder das Sammeln, Protokollieren oder Zweckentfremden von Fundstücken, Sinneseindrücken, das Führen zufälliger Gespräche mit Passanten über ihre Ortswahrnehmungen etc., um neue Entdeckungen, Erfahrungen und Zusammentreffen hervorzurufen. Dazu zählt z.B. auch, Stadtpläne zur Orientierung in ländlichen Gebieten zu nutzen. Mit anderen Worten lassen sich darunter Techniken des zufälligen, achtsamen oder eiligen Durchquerens von städtischen oder ländlichen Zonen verstehen. Hierbei geht es darum, die vorhersehbaren Pfade als Konsumenten, Arbeitnehmerinnen oder Schüler zu verlassen. Debord schlägt eine Produktion von psychogeographischen Karten vor, um den ordnungssystematischen Charakter der Umgebung sichtbar zu machen, die architektonischen Disziplinarstrukturen und räumlichen Manipulationsmechanismen zu verdeutlichen, und um den inneren Raum zu erkunden.

Beim Umherschweifen geht es also nicht um das Verorten und Festschreiben eines bekannten Ortes, sondern um Ortungsfreiheit, um die situationistische Auflösung der vorherrschenden Wahrnehmungs-, Denk und Handlungsschemata durch die Blossstellung des eindimensionalen, vorcodierten Alltags. Es geht um nicht mehr oder weniger als um die Entmystifizierung des Alltags, das Erkunden eigener Wahrnehmungsstereotypen, Urteilsmuster und Verhaltensgewohnheiten.

Solche ekstatischen Methoden und Techniken können auch als eine Verweigerung des Mobilisiert- Werdens zweckentfremdet werden, indem man im Unterholz, unter einer Brücke, in den Bergen oder irgendwo sonst Stellung bezieht und regungslos verharrt, bis die Dinge anfangen, lebendig zu werden – bis Schnecken, Ameisen oder sonstige Lebewesen sichtbar werden, die die ganze Zeit schon immer da waren. «Sich hinsetzen und ruhig sein und sich nicht bewegen», ist eine Erfahrung des Beat-Poeten Gary Snyder, «und die Eichhörnchen im Kopf fangen an, aus ihren Löchern zu kriechen, fangen an herumzulaufen und zu singen, und wenn man das einfach zulässt, kommt man in Berührung damit.»

Unter kapitalistischen Vorzeichen aber ist es ganz egal, an welche exotischen Orte wir reisen, wo unser Arbeitsplatz ist, wie gross unser Heimatgefühl ist – die Qualität der gemachten Erfahrungen wird nicht besser, sondern das Eigentliche wird sich uns erst gar nicht erschliessen, weil wir durch die Nekropolitik der Kapitalverwertung in einer tödlich wuchernden Entropie enden werden (Achim Szepanski: Marx`Non-Ökonomie). In letzter Konsequenz steht diesem Entfremdungsprozess nur eine grundlegende Abkehr von den bisherigen Arbeits- und Lebensweisen entgegen, wenn wir nicht in einer Welt leben wollen, in der Menschen «keine Spontaneität mehr haben, weil sie eigentlich gar nicht mehr ganz leben, sondern weil sie sich selber bereits als die Dinge, als die Automaten erfahren, als die sie in der Welt verwendet werden», wie T.W. Adorno über die Paradoxien unserer verwalteten Welt schrieb.

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